Fotos von Japans kompliziertem Verhältnis zu Niedlichkeit

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Popkultur

Fotos von Japans kompliziertem Verhältnis zu Niedlichkeit

Schulmädchen-Fetisch, Plüsch-Ohren und übergroße Pupillen – der Niedlichkeitskult hat in Japan nicht nur System, sondern auch einen Namen: "kawaii".

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Sybilla Patrizia ist Fotografin und studiert als Forschungsstudentin an der Tokyo University of the Arts. Ihr Buch Strawberry Jam widmet sich dem japanischen Fetisch zu Jugend und Niedlichkeit sowie den patriarchischen Werten, die das japanische Medienbild prägen. Sie lebt seit 2016 in Japan und verfolgt heimlich ihren Traum, Geisha zu werden.

Tokio ist eine Stadt, die kaum mehr Gegensätze behausen könnte: Fluffig und pink stehen hier neben Beton und Stahl, überarbeitete Büroangestellte chillen in Eulencafés, Dinosaurier arbeiten als Rezeptionisten in Hotels und Klapphandys erfreuen sich immer noch großer Beliebtheit. Viel erstaunlicher ist aber, dass genau dasselbe Land, das von Menschen aus aller Welt als so extrem weiterentwickelt und sogar futuristisch bezeichnet wird, gleichzeitig auch ein extrem rückständiges Frauenbild hat. Bis vor wenigen Jahren wurden Frauen über 25 hier noch oft als "Weihnachtskuchen" bezeichnet wurden – als Referenz auf japanische Weihnachtskuchen, die nach dem 25. Dezember als abgelaufen oder übrig geblieben gelten.

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Am Arbeitsmarkt, der in Japan nicht selten von sehr konservativen Firmen dominiert wird, verlassen Frauen nach der Geburt des ersten Kindes oft permanent ihren Arbeitsplatz – manchmal freiwillig, manchmal aber auch unter Druck des Arbeitgebers. Kein Wunder also, dass Japan vom World Economic Forum als eine der schlechtesten industrialisierten Nationen in Sachen Frauenrechten eingestuft wird – noch hinter Ländern wie Indien, Äthiopien und Nepal.

Es ist auch nichts Neues, dass Japaner praktisch alles lieben, was niedlich, süß und knuddelig ist. Der gängige Ausdruck dafür ist "kawaii". Und damit ist nicht nur die Zuneigung zu Miniaturpudeln in Pullis und Socken und lebensgroßen Maskottchen und Cafés gemeint. Vielmehr geht es dabei um Niedlichkeit als allgegenwärtiges Element in fast allen Aspekten des täglichen Lebens.

Während die meisten Japanerinnen zwar nicht so verzierte Outfits tragen, wie wir sie häufig in Beiträgen über Japan zu sehen bekommen (sprich: Lolita, Dekora oder andere Harajuku-Girls), gilt die Inszenierung als süß und dezent seit Langem als ideale Tugend für das weibliche Geschlecht, die sich noch heute im Verhalten, der Gestik, Mimik und Kleidung vieler Mädchen und junger Frauen widerspiegelt – ob nun bewusst oder unbewusst.

Ein Blick in die Abteilungen der japanischen Kosmetikfirmen eröffnet beispielsweise eine unendlich scheinende Auswahl von Hilfsmitteln zur optischen Vergrößerung der Augen, Aufhellung des Gesichts und Veränderung der Augenfarbe, die selbst erwachsene Frauen in ihre jugendlichen Alter Egos verwandeln soll. Magazine geben Vorschläge für die richtigen Gesten und Posen, um die perfekten Selfies zu schießen, während Verkäuferinnen potenzielle Kundinnen mit künstlich süß klingenden Stimmen und puderweißen Gesichtern in ihre Geschäfte locken.

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Der Fetisch zu Niedlichkeit und Verspieltheit hat in Japan aber auch ganz andere Seiten. Die teilweise extrem sexualisierten Darstellungen von Schulmädchencharakteren in Manga, Anime, Werbungen und anderem Bildmaterial, die weder von der japanischen Regierung noch der Medienbranche wirklich kritisch diskutiert werden, zeigen beispielsweise, wie dominant und allgegenwärtig männliche Ideale in vielen Aspekten des japanischen Lebens immer noch sind.

Dann gibt es auch noch die sogenannten "Burusera-Shops", die in den 90er-Jahren und Anfang dieses Jahrhunderts eine solch große Nachfrage nach gebrauchten Unterhosen von Schulmädchen hatten, dass der Verkauf schließlich (unter internationalem und inländischem Druck) von der japanischen Regierung verboten werden musste. Die Burusera-Shops, die diese Objekte damals anboten, gibt es aber trotzdem noch, nur hängt hier jetzt gebrauchte Unterwäsche von erwachsenen Frauen – inklusive dem Geruch der ehemaligen Trägerinnen.

Das Süßsein hat in Japan also viele Facetten. Das Verlangen nach Niedlichkeit bringt Stärke und Trost für manche und ruft geschätzte Erinnerungen der Jugend wach – gleichzeitig versteckt es aber auch die eigene Verletzlichkeit und ermöglicht die Ausbeutung Schwächerer. Es ist der überwältigende und manchmal schreiend laute Ausdruck von Freude und dennoch eine Art Ablehnung der Verantwortung. Eines scheint dabei klar: Kawaii verkörpert vor allem die Nostalgie zu der so schnell vergänglichen Jugend, in einer Zeit, die für viele Japaner vor allem für die Freiheit vor Verantwortung und Geborgenheit steht.

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