In den Südstaaten isst man auch mal Erde

FYI.

This story is over 5 years old.

Südstaaten

In den Südstaaten isst man auch mal Erde

Geophagie, der Fachbegriff für das Essen von Erde, Ton oder Lehm, klingt nach einer furchtbaren Idee. Dennoch wird Erdeessen in vielen Regionen der Welt mitnichten als etwas Komisches oder Ungewöhnliches angesehen, sondern ist viel mehr eine feste...

Geophagie, der Fachbegriff für das Essen von Erde, Ton oder Lehm, klingt nach einer furchtbaren Idee. Dennoch wird Erdeessen in vielen Regionen der Welt mitnichten als etwas Komisches oder Ungewöhnliches angesehen, sondern ist viel mehr eine feste kulinarische Gepflogenheit. Zu diesen Regionen zählen unter anderem die Südstaaten der USA, wo das Essen von Erde auf eine lange—wenn auch nur spärlich dokumentierte—Tradition zurückblickt.

Anzeige

Da mir diese Praxis völlig fremd war, wollte ich mehr darüber erfahren. Also konnte mein Weg nur zu Adam Forrester führen, ein Filmemacher, der die letzten vier Jahre damit verbracht hat, das Erdeessen im Rahmen seines neuen Projektes, Eat White Dirt, zu erforschen. Wie sich herausgestellt hat, ist die Frage, seit wann und warum Menschen Gefallen an Erd-Snacks finden, weitgehend ungeklärt.

southern-clay-eaters

Kaolin-Festival in Sandersville im US-Bundesstaat Georgia

MUNCHIES: Warum wolltest du eine Reportage über das Phänomen Erdeessen machen? Adam Forrester: Ich wurde vor meiner Reportage nie Zeuge von Geophagie, auch wenn ich schon oft davon gehört habe. Um mich herum war Erdeessen durchaus nichts Ungewöhnliches. An der Kasse von einigen Nachbarschaftsläden standen Schachteln, deren Inhalt wie weiße Steine aussah. Irgendwann habe ich dann einen Ladenbesitzer gefragt, wofür die eigentlich wären, und er erklärte mir, dass Menschen das essen würden. Als ich von ihm wissen wollte, warum zur Hölle sie das machen sollten, hatte er auch keine Antwort parat. Das hat dann den Stein ins Rollen gebracht. Ich wollte wissen, was Menschen dazu bewegt, sich freiwillig Erde in den Mund zu stecken.

Erzähl uns mehr von weißer Tonerde, a.k.a. Kaolin. Kaolin ist ein weißes Gestein, dessen Hauptbestandteil Kaolinit, ein Tonmineral, ist. Durch den US-Bundesstaat Georgia verläuft ein Kaolingürtel—entlang einer früheren Küstenlinie—wo Kaolin vom Gebirge her abgeschwemmt wurde und sich vor langer Zeit abgelagert hat. Heutzutage wird es hauptsächlich industriell abgebaut, aber entlang der Fall-Linie gibt es noch Stellen, wo das Gestein an der Oberfläche liegt. Kaolin-Abbau und -verarbeitung gehören zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in Georgia, da Kaolin in der Industrie vielfältigen Einsatz findet—unter anderem zur Herstellung von Streichfarben und Anstrichmittel, bei der Porzellan- sowie der Papierherstellung. Kaopectate ist ein Arzneimittel gegen Durchfall, das ursprünglich aus dem Mineral des Gesteins Kaolin, Kaolinit, hergestellt wurde (darum auch der Name).

Anzeige
clay

Der Inhalt aus einer 1,50 Euro teuren Schachtel Kaolin

Was bringt Leute dazu, das zu essen? Wenn du schon Dreck isst, dann solltest du dich von Sand fernhalten. Kaolin hat einen sehr geringen Sandgehalt, da es eine sehr glatte Tonart ist.

Wie verbreitet ist diese Praxis in den Südstaaten heute noch? Die Inhaber von Nachbarschaftsläden behaupten, dass sie ihre Vorräte wöchentlich auffüllen würden, was darauf hindeutet, dass es eine gleichbleibende „Nachfrage" gibt. Auf der anderen Seite findest du kaum Leute, die zugeben, dass sie Erde essen.

Wie würdest du den Geschmack beschreiben, wenn es denn einen gibt? Das Aroma erinnert an frischen Regen an einem heißen Tag. Kaolin ist recht cremig, aber gleichzeitig auch verdammt trocken. Für die meisten ist es geschmacklich nichtssagend, andere hingegen können davon gar nicht genug bekommen.

Das Essen von Kaolin wird oft mit schwangeren Frauen in Verbindung gebracht, oder? Ja, das stimmt. Viele afroamerikanische Frauen in den Südstaaten essen in der Schwangerschaft Kaolin, aber es ist auch bei vielen Kleinkindern auf der ganzen Welt äußerst beliebt. Darüber hinaus gibt es auch den Begriff „sand-lapper" (auf Deutsch „Sandschlecker"), mit dem eine kleine Gruppe von Erdeessern gemeint ist, die europäischer Herkunft sind und überwiegend in South Carolina leben. Auch bei Elefanten, Papageien, Grizzlybären, Kaninchen, Hörnchen und vielen anderen Tierarten steht Erde auf der Speisekarte.

Manchen Personen zufolge entstand diese Praxis im Süden der USA, als afrikanische Sklaven nach Amerika kamen. Wie siehst du das? Ich bin der Auffassung, dass Geophagie nicht erst mit dem Sklavenhandel begann, sondern viel früher. Schon im antiken Griechenland schrieb Hippokrates um 400 v. Chr. über Frauen, die Erde aßen. Und das ist nur der erste schriftliche Beleg. Möglicherweise hat diese Praxis schon Hunderttausende von Jahren vorher existiert. Erdeessen war in Afrika sehr verbreitet, und ist es auch heute noch. Dazu kommen aus immer mehr Ländern Berichte ans Tageslicht, die von Geophagie bei Menschen sprechen. Ich glaube, die Praxis hat nur deswegen bis in unsere Tage überlebt, weil sie verbreiteter ist, als wir denken. Es gibt sie heute noch, weil sie von Generation zu Generation tradiert wird. Die meisten Leute, mit denen ich sprach, meinten, dass sie Erde essen würden, weil das schon ihre Mutter getan hat. Historisch gesehen war diese Praxis vor allem bei Schwangeren verbreitet, aber es wäre falsch, sie darauf zu begrenzen. Ich hoffe, dass ich mit diesem Projekt dem Phänomen Geophagie die ihr gebührende Aufmerksamkeit schenken kann.

Anzeige
reservoir-for-dirt

Kaolin-Vorkommen in Sandersville

Handelt es sich bei dieser Praxis um eine Essstörung? Jeder, der in den Südstaaten aufgewachsen ist, hat schon mal von Kaolin gehört. Es gibt noch ein paar andere seltsame Delikatessen, die für die Südstaaten typisch sind und gut zu Kaolin passen, darunter Gelbwurz-Tee.

Erde zu essen ist mit einem Stigma behaftet, oder? Ja, genau. Und das Stigma war auch einer der Gründe dafür, warum ich diesen Film drehen wollte. Erdeessen wurde jahrhundertelang als etwas abgetan, das nur auf schwangere Frauen zutreffen würde. Noch nie wurde in den Südstaaten versucht, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Ich wollte unbedingt, dass Leute zu Wort kommen, die selbst Erde essen. Darum war es für mich sehr wichtig, Erdeesser ausfindig zu machen. Das war aber nicht ganz einfach.

Welche Personen sind dir besonders in Erinnerung geblieben? Tammy Wright und ihre Tochter Tatiana, ganz klar. Innerhalb von wenigen Minuten ist Tammy vor der Kamera total aufgeblüht. Sie hat zugegeben, dass sie viel zu viel Kaolin isst, aber sie kann damit einfach nicht aufhören. Kaolin ist ihr schönstes Laster. Sie hat mir sogar gezeigt, wie sie die Erde am liebsten zubereitet.

OK, aber wo kommt all diese Erde überhaupt her? Ist sie schwer zu bekommen? Du kannst sie über das Internet bestellen. Und Leute rufen dafür sogar aus London auf dem Markt von Atlanta an. Außerdem wird es auch in vielen Nachbarschaftsläden verkauft, und auch an der Fall-Linie finden sich Vorkommen, wo Leute Kaolin für den Eigenbedarf oder Verkauf sammeln. Immer wieder habe ich versucht, von den Verkäufern zu erfahren, was ihre Bezugsquellen sind—mit wenig Erfolg. Einer hat mir gesagt, dass er es direkt aus dem Boden holt, und zwar in der Nähe von Macon im US-Bundesstaat Georgia.

dirt-samples

Geologe Paul Schroeder erklärt die verschiedenen Stufen bei der Kaolin-Entwicklung.

Glaubst du, das Zeug ist gesund? Soweit würde ich nicht gehen, aber in Maßen kann es durchaus vorbeugend wirken. Wer bei Magenbeschwerden schon mal Kaopectate genommen hat, hat wahrscheinlich auch Kaolin zu sich genommen. Es dient der Regeneration der Magenschleimhaut und kann auch bei Verdauungsproblemen helfen. Momentan wird zudem seine mögliche Rolle bei Fragen der Wirkstoffabgabe erforscht. Zu große Mengen können jedoch zu Darmverstopfungen führen.

Hast du nach all den Jahren das Gefühl, das Geheimnis der Geophagie entschlüsselt zu haben? Dazu sage ich nur Folgendes: Leute, schaut euch meinen Film an! Er wird diesen September auf verschiedenen Festivals gezeigt.

Viel Erfolg.