Illustration einer Person im Dunkeln. Wir haben eine blinde Person mit Klischees über Blindheit konfrontiert
llustration: KRUMP
Menschen

Wir haben einen blinden Menschen mit Klischees über Blindheit konfrontiert

"Man muss mir nicht die Schuhe binden oder mir die Tür aufhalten."
Matéo Vigné
Brussels, BE

Das erste Mal traf ich Juliette Fito, eine 26-jährige Physiotherapeutin, auf einer Party bei Freunden. Ich hatte schon ein paar Bier getrunken und gerade meinen zweiten Joint angezündet, als ich mich neben sie setzte. Wir redeten ein wenig über dies und das und dann wollte ich ihr ein lustiges Video zeigen. Ich wunderte mich, weil sie nicht wirklich darauf reagierte, als mir ein Freund zurief: "Du Idiot, sie ist blind!" Meine erste Reaktion war Enttäuschung, weil ich das Video nicht mit ihr teilen konnte, also sagte ich nur: "Ach, Mist. Schade … Na dann egal."

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Als wir ein paar Jahre später über unsere Begegnung sprachen, erzählte mir Juliette, dass das eine der besten Reaktionen auf ihre Behinderung gewesen sei, die sie je erlebt habe: spontan und normalisierend. Juliette hat sich bereit erklärt, ein paar Fragen zu beantworten, um mit einigen Vorurteilen aufzuräumen, die Leute über das Leben einer blinden oder sehbehinderten Person haben.

VICE: Zunächst einmal, welchen Begriff sollte man verwenden – "blind" oder "sehbehindert"?
Juliette:
Das ist ziemlich kompliziert, weil es individuell ist. Blindheit ist ziemlich eindeutig – es bedeutet, dass man überhaupt keinen Schatten oder Licht sieht, oder nur ganz schwach. Aber es gibt viele Abstufungen von Sehbehinderung. Manche Menschen sehen in der Mitte ihres Blickfeldes nichts, andere haben kein peripheres Sehen [sie sehen nichts, dass sie nicht fokussieren], andere sehen verschwommen, aber ihr Sichtfeld ist nicht eingeschränkt, und manche Leute können keine Farben oder Tiefen erkennen.

Ist es in deinem Fall nach und nach schlimmer geworden?
Als ich sieben Jahre alt war, bemerkte meine Mutter, dass ich anders reagierte, wenn sie mir von links einen Snack reichte. Ich machte eine Reihe von Tests in verschiedenen Krankenhäusern. Die Untersuchungen laufen nach Pyramidenschema: Man fängt bei der häufigsten Diagnose an und geht bis zur seltensten. Am Ende wurde Retinitis pigmentosa bei mir diagnostiziert, eine Krankheit, die das periphere Sehen schwächt. Die meisten Menschen bekommen sie später im Leben, im Alter von etwa 30 bis 40 Jahren. Es ist, als würde man durch eine Röhre sehen, und irgendwann wird einfach alles schwarz.

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Erinnerst du dich an den Moment, als alles schwarz wurde?
Ja, ich war 18. Aber man steht nicht plötzlich im Dunkeln, sondern bemerkt nach und nach, dass man Dinge nicht mehr sieht, die man einen Monat zuvor noch sehen konnte und fängt an, dagegenzulaufen und sich an ihnen zu stoßen.  

Kannst du dir das Aussehen der Leute, die du heute kennenlernst, vorstellen?
Früher habe ich sehr gerne fotografiert. Als ich begriff, dass ich blind werden würde, nahm ich mir vor, so viele Dinge wie möglich zu betrachten. Ich musste meine visuelle Bibliothek füllen, um Gesichter in meinem Kopf nachbilden zu können. 

Wenn man blind wird, konzentriert man sich auf andere Sinne. Vieles kann man von der Persönlichkeit oder der Art, wie die Person sich bewegt, ableiten. Wir strahlen Dinge aus, die wir selbst nicht wahrnehmen. Man bemerkt zum Beispiel, ob jemand selbstbewusst ist.

Ich kann nicht genau erklären, wie ich mir Leute vorstelle, aber ich stelle mir immer Gesichter zu ihnen vor und lustigerweise passen sie auch oft. Als ich meine Physiotherapie-Ausbildung gemacht habe, habe ich manchmal ein Spiel gespielt, bei dem ich geraten habe, wie die Leute aussehen, und ich lag fast immer richtig. Ich war sogar so gut, dass eine Freundin einmal witzelte, ich sei gar nicht blind, sondern simuliere wegen der Sozialhilfe. 

Interessierst du dich für Kunst und Kultur?
Dank meiner Eltern bin ich damit aufgewachsen. Heutzutage ist es etwas schwerer. Filme sind zum Beispiel oft nicht für Blinde zugänglich, wenn sie neu rauskommen. Es gibt so viele Filme, die ich nicht gesehen habe, weil es keine Audiodeskription gab. In Museen gibt es oft Audioguides, was toll ist. Ich glaube, es wäre sogar noch besser, wenn sie die Kunstwerke erklären würden, ohne unbedingt genau zu beschreiben, wie sie aussehen. 

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Ich war mit meiner Mutter bei einer Ausstellung des Malers Francis Bacon, und sie hat mir seine Stücke beschrieben. Sie strahlten so eine unglaubliche, tief gehende Kraft aus, dass ich einige Zeit brauchte, um das zu verdauen. Außerdem liebe ich Lesen. Ein Buch, das mich zuletzt wirklich beeindruckt hat, ist Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez. Yussef Kamaals Jazz-Album Black Focus hat mich auch sehr berührt.

Wie ist es für dich, wenn du verreist?
Das kommt darauf an, mit wem ich unterwegs bin. Mit manchen Menschen ist Verreisen schön. Aber wenn man mir nur hübsche Denkmäler und Sehenswürdigkeiten beschreibt – na ja, das interessiert mich nicht. Ich möchte, dass man mir von den Leuten erzählt, die ihre Wäsche an den Fenstern aufhängen, von den Kritzeleien an den Wänden und der seltsamen Architektur. Von dem, was die Szenerie typisch, besonders und berührend macht.

Benutzt du Social Media?
Instagram ergibt für mich keinen Sinn. Anfangs war das frustrierend. Als viele anfingen, es zu benutzen, habe ich einige Neuigkeiten verpasst. Ich bin auf Facebook, aber nur, weil es nützlich ist, wenn Leute Geburtstage oder andere Events organisieren.

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Mein iPhone ist im Voiceover-Modus, deswegen liest es jedes verdammte "http://" vor, wenn Links in dem Beitrag sind. Es ist super nervig, wenn ich zu einer Veranstaltung gehen will und da ein Link zum Ticketverkauf drinsteht. Alles, was ich wissen will, sind die Konzertdaten!

Ich habe gesehen, dass du ein paar Profilfotos bei Facebook hochgeladen hast. Hast du sie selbst ausgesucht?
Die sind alt. Ich habe sie reingestellt, weil ein guter Freund von mir Fotograf ist. Er hat mir mal angeboten, ein paar Fotos von mir zu machen, weil er die, die ich gepostet hatte, eher so mittelmäßig fand. Ich vertraue auf die Einschätzung meiner Freunde und lasse meistens sie entscheiden, welche Fotos gut sind. Aber ich glaube, mein Image auf Social Media entspricht gar nicht wirklich meiner Person.

Du bist Physiotherapeutin. Wie läuft es bei der Arbeit?
Wenn eine zu behandelnde Person reinkommt, frage ich, ob sie informiert wurde, dass ich blind bin. Aus irgendeinem Grund glauben die Leute manchmal, dass die Behandlung deshalb besser wird. Sie sagen so was wie: "Oh wow, du musst ja einen unglaublichen Tastsinn haben!" Aber ich glaube nicht, dass es einen Unterschied macht. Wenn eine Person, die sehen kann, sich auf ihre Arbeit konzentriert, wird sie sie genauso gut machen. Das Komische ist, dass ich meine Augen automatisch schließe, wenn ich jemanden berühre. Es ist, als ob ich da oben ein Fenster zumachen müsste, damit ich mich auf meine Hände konzentrieren kann. Eine Kollegin hat mir erzählt, dass sie angefangen hat, es genauso zu machen.

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Auf der Verwaltungsebene hapert es allerdings ein bisschen. In der Klinik benutzen wir eine Software, in der man eingeben muss, welche Behandlung man durchgeführt hat, damit wir dafür bezahlt werden können. Das Problem ist, dass das Programm nicht mit der Sprachausgabe kompatibel ist. Es gibt eine Menge blinder und sehbehinderter Personen in der Physiotherapie, und trotzdem wurde die Software noch nicht für uns angepasst. Ich hasse es, mich auf Leute verlassen zu müssen, aber leider habe ich hier keine Wahl. Das gibt mir das Gefühl, vergessen zu werden.

Wie gehst du bei der Kleidungsauswahl vor?
Neue Kleidungsstücke kann ich mir nicht wirklich selbst aussuchen. Ich nehme Freunde oder Familie mit, um mich beraten zu lassen. Mich anzuziehen ist eine andere Angelegenheit, dafür habe ich meine eigenen kleinen Tricks. Ich habe zum Beispiel alle Etiketten von meinen schwarzen Klamotten abgemacht. So kann ich erkennen, ob ich schwarze oder blaue Jeans in der Hand halte. Oberteile erkenne ich am Stoff, dem Schnitt oder den Knöpfen. Ich mache einfach einen schnellen Scan meines Kleiderstapels, indem ich mit dem Finger drüberfahre. So weiß ich, was ich zur Auswahl habe. Wenn ich nicht sicher bin, ob etwas zusammenpasst, frage ich jemanden.

Dein Make-up sieht toll aus. Wie machst du das?
Ich habe schon Make-up benutzt, als ich noch sehen konnte, also ist es nicht schwer für mich, Eyeliner aufzutragen. Wenn ich mir wirklich nicht sicher bin, ob er richtig sitzt, weil ich mich beeilen musste oder so, frage ich die erste Person, die ich treffe, ob es OK aussieht. Es ist sogar schon vorgekommen, dass ich einen Patienten gefragt habe.

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Ist es schwierig, wenn du deine Periode hast?
Früher habe ich die Pille genommen, da war es einfacher. Ich wusste genau, wann meine Periode anfangen würde. Seit ich sie abgesetzt habe, ist es schon ein Problem. Ich musste lernen, besser auf meinen Körper zu hören. Wenn ich eine Woche lang Heißhunger auf Zucker habe, bedeutet das, dass ich in der nächsten Woche meine Tage bekommen werde. Meine Libido erreicht in ganz bestimmten Phasen ihren Höhepunkt, was ein guter Indikator ist. Ich habe Glück, weil ich einen ziemlich regelmäßigen Zyklus habe. Außerdem habe ich Menstruationshöschen gekauft, das war lebensverändernd. Wenn ich den Verdacht habe, dass meine Periode anfangen könnte, ziehe ich einfach die an. 

Hast du es satt, dass dir Leute Fragen zu deiner Blindheit stellen?
Manche Fragen nerven mich, weil sie mir andauernd gestellt werden. Aber dann atme ich kurz durch und rufe mir in Erinnerung, dass die Leute diese Dinge jetzt nicht wüssten, wenn sie nicht gefragt hätten. 

Gibt es andere Verhaltensweisen, die dich nerven?
Man sieht nicht unbedingt sofort, dass ich nicht sehen kann. Manche sind total entsetzt, wenn ich es ihnen erzähle. Das kann sehr nerven. Eventuell ändert sich dann komplett, wie sie sich benehmen oder mit dir reden. Es entsteht eine Distanz, die vorher nicht da war. Obwohl du die Leute nicht sehen kannst, fühlst du das Gewicht ihrer Blicke.

Andere behandeln dich wie ein Kind. Obwohl sie vielleicht gute Absichten haben, gibt mir das das Gefühl, als müsste ich permanent beweisen, dass ich erwachsen bin. Ich kenne meine Grenzen. Ich weiß, was ich kann und was ich nicht kann, und ich weiß, wie ich das den Leuten verständlich mache. Man muss mir nicht die Schuhe binden oder mir die Tür aufhalten. Letztens war ich mit Freunden etwas trinken und es war schon etwas spät geworden. Eine Freundin fragte einen Kumpel, ob ich nach Hause finden würde, da ich getrunken hatte – obwohl ich direkt neben ihnen stand. Das hat mich genervt; nicht nur, weil sie an meinen Fähigkeiten zweifelten, sondern auch, weil ich mich wie unsichtbar fühlte.

Das Problem ist, dass die Leute es dir einfach machen wollen. Aber ich muss lernen, mit meiner Einschränkung zu leben – und wenn man mich nicht scheitern und verschiedene Situationen vermasseln lässt, werde ich es nie alleine schaffen.

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